Wenn ein anderer stirbt

Die Schuld der Überlebenden

Kurz nach der Nachricht meiner eigenen Remission verstarb ein Mensch plötzlich und unerwartet an Krebs, der meinem Mann und mir in einem Abschnitt unseres Lebens sehr wichtig war. Ein Mensch, der vor Lebensfreude und Begeisterungsfähigkeit so sprühte, wurde aus dem Leben gerissen, während ich selbst dem Tod geradeso von der Schippe gesprungen war. Meine Erleichterung über meine Remission wich einem schweren, grausamen Gefühl: Die Schuld der Überlebenden. Ich will euch hier erzählen, was dabei in mir vorging und wie ich damit umging.

Das bedrohlichste an einer lebensgefährlichen Erkrankung ist wohl dieses: Sie sucht uns völlig willkürlich heim. Es gibt kein „Warum“ und keine Antworten, es gibt nur nackte Tatsachen. Bei der Frage, warum manche überleben, während andere daran versterben, ist es genauso.

Es ist wichtig zu trauern, und es ist wichtig, sich mit seiner eigenen Ohnmacht auseinanderzusetzen. Es ist aber auch genauso wichtig, sich selbst freizusprechen. Bei der Frage, wer lebt und wer stirbt, geht es am Ende nicht darum, wer es wohl mehr oder weniger verdient hätte. Die Entscheidung darüber liegt schlicht und ergreifend nicht in unserer Hand.

Darum dürfen wir, die wir überlebt haben, dies auch in Freude tun. Wir dürfen derer gedenken, die uns durch die Krankheit genommen wurden, und dann fortfahren, unser Leben zu leben. Wir müssen nicht in der Starre verharren, die der Tod mit sich bringt. Wir dürfen vielmehr umso lauter lachen in Gedenken an jene, denen das Lachen mit uns verwehrt bleibt.

Plötzlich ist der Krebs überall…

Mit dem Krebs ist es wie mit einem roten Auto: Wenn du eines hast, siehst du es überall. Kaum, dass ich meine Diagnose erhalten hatte, waren um mich herum zahlreiche Betroffene: die Freundin meiner Schwiegermutter. Der Pastor unserer ehemaligen Kirchengemeinde. Die Schwester und Mutter einer Schulkameradin. Der Tutor meines Mannes.

Er war an einer besonders schweren und aggressiven Form des Bauchspeicheldrüsenkrebs’ erkrankt. Wir hatten uns seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen, aber die Erinnerung an ihn lebt bis heute mit lustigen, lebensfrohen Szenen. Er war nicht nur ein Lehrer – er war ein Zeugnis davon, wie jemand immer jung geblieben und zu Scherzen aufgelegt sein kann. Er war klug und witzig, manchmal albern, aber immer eine Stütze. Er hat mit seiner Art nicht nur Wissen vermittelt, sondern die Leben und die Herzen zahlreicher Schüler berührt. Dann erkrankte er an Krebs.

…und manche sterben, während andere leben

Kurz nachdem ich in Remission war, nachdem die lebensrettende Nachricht kam, dass kein Tumor mehr zu finden war, starb er. Für uns alle unbegreifbar, plötzlich, unvorhergesehen wurde er mitten aus unserem Leben gerissen, in dem er auch zehn Jahre nach dem Ende der Schulzeit immer einen Platz hatte. Er starb an Krebs – an genau dem Fluch, den ich gerade überlebt hatte.

Für mich war diese Nachricht, war dieses Wissen wie ein Kissen auf meinem Gesicht. Alles war dumpf, weit entfernt und nahm mir dennoch den Atem. Er starb. Ich lebe. 

Warum?

Alles, was sich tat, fühlte sich mit einem Mal falsch an. Sollte ich nicht mehr lachen? Mehr genießen? Weniger meine Zeit verschwenden? War ich nicht verpflichtet, in dieser Welt einen Beitrag zu leisten, mich irgendwie beim Schicksal dafür zu revanchieren, dass ich eine zweite Chance bekam. War ich es ihm nicht schuldig, diesen Lebensfrohsinn, den er uns nebenbei, zwischen Biologie und Chemie, gelehrt hatte, in die Welt zu tragen?

Was ich spürte war Schuld: Weil ich überlebt hatte, während er starb. Weil mein Leben weiterging, während seines endete. Weil meine Familie mit mir lebte und lachte, während seine trauerte und weinte.

Ich spürte Schuld, weil ich manchmal zu sehr lachte, mich zu sehr freute, zu laut feierte, während dieser wundervolle Mensch nie wieder mit uns lachen würde.

Ich begriff es nicht und gleichzeitig begriff ich es zu sehr. Ich schaffte es nicht, meinen Mann zur Beerdigung zu begleiten. Für mich war es nicht zu überwinden, einen anderen Krebspatienten zu Grabe zu tragen, während ich selbst diesen Horror doch geradeso überwunden hatte.

Ich fühlte mich schuldig.

Es ist nicht deine Schuld.

Was mir half, zu verarbeiten, war, dass ich begriff: Es war nicht meine Schuld. Ich hatte meine eigene Erkrankung genauso wenig herbeigeführt wie er die seine. Ich hatte für mein Überleben nicht mehr oder weniger unternommen als er. Am Ende haben wir beide dieselben Karten ausgeteilt bekommen – aus reinem Zufall war mein Blatt besser als seines. Ich hätte sein Sterben genauso wenig verhindern können wie er mein Überleben.

Entgegen aller Trauma-Romantik bin ich es aber auch niemandem schuldig, aus meinem Leben in jeder Minute etwas Besonderes zu machen. Nur, weil ich überlebt habe, ist mein Leben nicht ein anderes. Es gehört nach wie vor genauso die gleiche, banale Eintönigkeit dazu wie die besonderen, weichgemalten Momente des Glücks. Ich kann versuchen, das beste aus jedem Moment zu machen, aber es macht mich nicht zu einem schlechteren Menschen, wenn es mir nicht gelingt.

MutmacherMein Rat an alle Betroffenen: Es ist nicht deine Schuld. Ob jemand lebt oder stirbt liegt nicht in unserer Hand. Es ist gut und wichtig, die Trauer, die Schuld, die Tragik zuzulassen, wenn jemand anderes an Krebs verstirbt, während wir leben. Aber es ist nicht unsere Schuld. Wende dich an Menschen, mit denen du reden kannst. Trauert gemeinsam. Such dir Hilfe bei einem Psychoonkologen, wenn du merkst, dass die Trauer dich zu sehr einnimmt. Aber mach dir vor allem immer bewusst: Es ist nicht deine Schuld.

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